Stoffwechsel

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Nächste Sendung: Freitag, 29. März 2024 00:00

Wie wir leben wollen - Cancel Culture - holt das Popcorn

Es geht mal wieder um Cancel Culture - holt das Popcorn von Hoe_mies oder auch Lucia Luciano & Gizem Adiyaman Cancel Culture könnte vielleicht als kollektiver Wunsch verstanden werden, diejenigen in Machtpositionen für ihr vermeintliches Fehlverhalten zur Verantwortung zu ziehen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, aber in der Regel darauf zurückzuführen, dass die betreffende Person eine problematische Meinung geäußert oder sich inakzeptabel verhalten hat und somit andere unterdrückt. Irgendwie ist Cancel Culture in 2020 aber zu einer Phrase verkommen, unter der extrem unterschiedliche Menschen und Situationen zusammengepfercht werden. An einem Ende des Spektrums stehen Menschen wie Harvey Weinstein und R. Kelly, die vor ihren Sexualverbrecherprozessen von der Öffentlichkeit gecancelt wurden. Am anderen Ende stehen alltägliche Menschen, die auf Twitter und Co. mal mehr und mal weniger problematische Ansichten teilen und dafür öffentlich kritisiert werden, manchmal auch ihre Jobs verlieren. Trotz der positiven Absicht vieler Cancelings, an das Verantwortungsbewusstsein von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu appellieren, ist die Cancel Culture selbst im Sommer 2020 in Verruf geraten. Harper’s Bazaar veröffentlichte im Juli einen offenen Brief, der von 153 Schriftsteller*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen, darunter auch Namen wie J.K. Rowling, Noam Chomsky oder Gloria Steinem unterzeichnet wurde. Der Brief warnt vor einem intoleranten Klima, das die Meinungsfreiheit gefährde und zu ideologischer Konformität führe. Diese Auffassung verkennt jedoch, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht bedeutet, jeden Gedanken ohne Kritik veröffentlichen zu können. Ja, es ist äußerst nervenaufreibend, in sozialen Medien seinen eigenen Namen trenden und seine Kommentarspalten explodieren zu sehen, sodass man sich gar nicht mehr traut, den Posteingang auch nur zu betreten. Geht man allerdings nur von seiner eigenen Ungemütlichkeit aus, läuft man Gefahr vor Scham und dem Gefühl des Deutungsverlustes über sein eigenes Narrativ, etwas wichtiges zu verkennen: die Bedeutung von Cancel Culture als Tool derjenigen, die von der Gesellschaft stummgeschaltet werden. Die öffentliche Kritik als Gegenreaktion auf ein Machtungleichgewicht. An dieser Stelle zitieren wir gerne eine Aussage von dem*der Essayist*in Sinthujan Varatharajah aus unserer Realitäter*innen Podcastfolge über Cancel Culture: "Vielleicht ist die Perspektive auf Cancel Kultur die falsche. Vielleicht müssten wir die Mehrheitsgesellschaft als die eigentliche Cancel Kultur verstehen, die Kulturen und Menschen ausschließt bzw. diskriminiert. Das sind Cancel Kulturen, die Menschen schon seit Jahrhunderten in dieser Machtlosigkeit halten.” Ihrem Versprechen einer Streichung kommt die Cancel Culture eigentlich eher selten gleich. So empfinden diejenigen in privilegierten Positionen die öffentliche Bloßstellung als gewaltvolle Einschränkung ihrer Freiheiten. Dabei sind sie diejenigen, die andere in ihrer Freiheit einschränken oder sogar Gewalt ausüben. Meistens klingt die online Kritik binnen einiger Wochen ab und die Auswirkung dieser öffentlichen Schlachten auf die Jobchancen oder Plattform berühmter Persönlichkeiten hält sich in Grenzen. Während die Behauptung, unsere offene Debattenkultur würde durch öffentliche Bloßstellungen gefährdet werden, ziemlich weit hergeholt ist, ist die Kritik an der Vorgehensweise solcher Cancelings, bzw. in den meisten Fällen eher Call-Outs, angebracht. Die Auswirkungen auf die Psyche und das soziale Umfeld können in manchen Fällen unverhältnismäßig hart ausfallen. Es wird auch fast nie zum Thema gemacht, wie sich eine gecancelte Person davon wieder erholen und auch in der Öffentlichkeit rehabilitiert werden kann. Eine Person öffentlich anzuprangern, die durch ihr Fehlverhalten Gewalt ausgeübt oder ermöglicht hat, dient ja eigentlich dazu, an ihr Verantwortungsgefühl zu appellieren und sie dazu zu motivieren, ihre Schuld zu begleichen. Aber wenn wir Rechenschaft und mehr Achtsamkeit einfordern, den Beschuldigten jedoch keinen Raum geben, in Ruhe ihr Fehlverhalten zu reflektieren, daraus zu lernen und diese Lektionen auch mit anderen teilen, was wollen wir dann? Was bringt jemandem die Entwicklung zu einer bewussteren Person, wenn sie durch einen Fehler zur Persona non grata erklärt und nicht selten auch von ihrem Umfeld fallen gelassen wird? Stichwort: Kontaktschuld. Auch hier zitieren wir gerne aus unserer Podcastfolge, diesmal die Journalistin Vanessa Vu: "Ich finde, man sollte einander kritisieren können, aber eben solidarisch. Ich kritisiere nicht, weil ich jemanden zerstören will, sondern weil ich will, dass jemand wachsen kann. Kritik ohne Solidarität macht wenig Sinn, genauso wie Solidarität ohne Kritik auch wenig Sinn macht.” Indem wir Menschen auf ihre Mängel oder ihre Fauxpas reduzieren, missachten wir, dass sich Meinungen und Verhalten durch Informationen verändern können. Ein Call-Out kann sicherlich dazu beitragen, überhaupt auf problematische Ansichten oder Handlungen aufmerksam zu machen. Aber indem übereilte Statements, Spendenzahlungen als Wiedergutmachung oder die Distanzierung von einer problematischen Person eingefordert werden, werden keine Machtverhältnisse verändert. Vielmehr kann sich die angeprangerte Person in die Ecke gedrängt fühlen, wenn Hunderte oder Tausende einen für alle sichtbar kritisieren oder angreifen. Insbesondere wenn man keine Berühmtheit ist und mit dieser Wucht an Negativität noch nicht umgehen kann. Unsere linke, queerfeministische BIPOC Bubble spricht oft darüber, seine psychische Gesundheit nicht zu vernachlässigen. Und es ist auch möglich, jemanden solidarisch zu kritisieren, ohne ihn/sie komplett fallen zu lassen, insbesondere wenn diese Person selbst von Diskriminierung betroffen ist und in ihrer Gemeinschaft einen Rückzugsort sieht. Als marginalisierte Person in der Öffentlichkeit zu stehen, ist ohnehin mit viel Erwartungsdruck verbunden. Und auch wenn eine größere Reichweite mit Privilegien einhergeht, schützt sie nicht vor Diskriminierung oder Gewalt. Im Gegenteil, sie macht einen ziemlich angreifbar, insbesondere dann, wenn man auch noch (identitäts-)politische Haltung zeigt. “Wokeness” oder “Awareness” sind das Ergebnis von Selbstreflexion und Weiterbildung, zu der nicht alle gleichermaßen Zugang haben, weil die Diskurse meist ziemlich akademisch sind. Wenn man sich darüber bewusst wird, dass man selbst noch viel zu lernen hat, stempelt man andere für ihre Wissenslücken oder fehlende Sensibilisierung nicht mehr so leichtfertig ab. Stattdessen fängt man an, zu hinterfragen, warum wir eigentlich so darauf abgehen, unsere moralische oder diskursive Überlegenheit zur Schau zu stellen, indem wir die Fehler anderer Geisel nehmen, nur um sie bei der nächsten Gelegenheit gegen sie zu verwenden. Wir müssen einfach lernen, innerhalb unserer Gemeinschaften nicht dieselben überwachenden und strafenden Methoden anzuwenden, mit der die Mehrheitsgesellschaft uns an die Ränder drängt. Unsere eigene Erfahrung mit öffentlicher Bloßstellung in 2020 hat uns vielleicht nicht bei allen ins Aus befördert, aber sie hat uns gezeigt, wie austauschbar man in der BIPoC Bubble sein kann. Es scheint einfacher, Gewalt zu individualisieren und nicht als kollektives Problem zu betrachten, für das sich alle verantwortlich fühlen. So verschwand man bei einigen auf der Bildfläche - das problematische Verhalten wurde lokalisiert, es folgte eine Distanzierung und das unerwünschte Verhalten war quasi aus den Augen, aus dem Sinn. Woran wir noch arbeiten müssen, ist die Bereitschaft dazu, Konflikte gemeinsam überbrücken zu lernen, um als Kollektiv voranzukommen. Trotz alledem, war es auch eine lehrreiche Erfahrung, die uns vor Augen geführt hat, welche Verantwortung wir in unserer Gemeinschaft tragen und die uns zum Nachdenken angeregt hat, wie wir dieser besser gerecht werden können. Sie hat uns aber auch gezeigt, welche Ressourcen und Strukturen interner Konfliktbewältigung wir uns als diskriminierte, traumatisierte Gemeinschaften noch erarbeiten müssen. Um diesen Aufsatz über Cancel Culture mit einem Zitat der Autorin Kai Cheng Thom aus ihrem Buch “I Hope We Choose Love” abzuschließen: “(...) a culture in which the majority of political education is done through public shamings is neither all that socially transformative nor psychological healthy.” Lasst uns gemeinsam daran arbeiten, achtsamer miteinander zu sein, und einander motivieren, zu wachsen.

 
AutorIn: Stoffwechsel | Format: MPEG-1 Layer 3 | Dauer: 10:09 Minuten

 

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